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Channel: Kalliope-Autografendatenbank – Digital Intellectuals
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Archivalien im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

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Ein Tagungsbericht von Johanna Preusse

Das Netzwerk KOOP Litera Deutschland veranstaltet jedes Jahr eine Tagung, die verschiedenen Institutionen, die mit Autographen und Nachlässen arbeiten, einen Austausch ermöglicht. Angesprochen sind also in erster Linie Archive und Bibliotheken, aber ebenso alle anderen Institutionen, Projekte und Personen, für die das Themengebiet Relevanz hat. Die Tagung zum Thema „Archivische Erschließung und wissenschaftliche Edition“ fand im Mai 2015 im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv statt, an einem Ort also, wo (mindestens) zwei der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller-Nachlässe lagern. Goethe selbst hat mit der Aufmerksamkeit, die er seinem eigenen, bereits zu Lebzeiten geordneten Nachlass geschenkt hat, den hohen kulturellen Stellenwert mitbefördert, der bis heute den Nachlässen bedeutender Persönlichkeiten beigemessen wird. Und nicht nur seine eigenen Handschriften sammelte er, sondern auch solche anderer berühmter Personen – eine Auswahl aus dieser Autographensammlung Goethes ist in Weimar noch bis zum 28. Juni 2015 in einer Ausstellung des Archivs zu sehen.

Wer den Zugang zu solchen handschriftlichen Beständen nicht direkt im Archiv sucht, kann ihn indirekt über gedruckte Editionen, digitale Editionen und die immer größere Masse an digitalisiertem, online abrufbarem Archivgut finden. So wird etwa in einem gemeinsamen Projekt der Staatsbibliothek zu Berlin und der Uni Potsdam zu den amerikanischen Reisetagebüchern Alexander von Humboldts daran gearbeitet, dessen gesamten Nachlass zu erschließen und online zugänglich zu machen. – Die Humboldt-Bestände der Staatsbibliothek sind als Digitalisate bereits online einsehbar, diejenigen aus Krakau sollen noch folgen. Einige weitere auf der Tagung vorgestellte Projekte (Links siehe unten) waren die bereits 19 Bände umfassende Schumann Briefedition, die ergänzt wird durch eine digitale Briefdatenbank; die digitale historisch-kritische Edition von Goethes Faust, die die verschiedenen Bearbeitungsstufen des Werks in Digitalisaten und Transkriptionen verfügbar macht und sie in verschiedenen Graphiken zueinander in Beziehung setzen kann; das Projekt einer Gesamtausgabe der Briefe an Goethe in Regestform; das langfristige Vorhaben, die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken (1887-1919) in Form einer historisch-kritischen Gesamtausgabe zu erneuern; und die neue Version des Kalliope-Verbundkatalogs. Die Kalliope-Seite, auf der man nach den handschriftlichen Archivalien einer Vielzahl von Institutionen suchen kann, wurde zugunsten der Benutzerfreundlichkeit umgestaltet (z.B. nur noch ein Eingabefenster zum Sucheinstieg) und um einige Funktionen erweitert (z. B. können Korrespondenznetzwerke visualisiert werden).

An den verschiedenen Projekten wurden viele Vorteile digitaler Zugänglichmachung und Aufbereitung von Archivgut ersichtlich. Um einige zu nennen: Zusammengehöriges, aber an verschiedenen Orten liegendes Material (z. B. alle Textzeugnisse von einer Person) kann virtuell zusammengeführt werden. Verschiedene Ansichten bzw. Ordnungen desselben Materials können angeboten werden (so wird etwa die online-Version der historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen sowohl eine chronologische Ordnung der Briefe als auch Goethes eigene Ordnung in thematische Faszikel abbilden können). Digitalisate ermöglichen dem Benutzer einen gegenüber dem Archivbesuch zeit- und mitunter auch kostensparenden Zugang zu Archivbeständen. Die leichte Zugänglichkeit und Präsenz im Netz bringt einige Menschen vielleicht dazu – oder senkt ihre Hemmschwelle – , überhaupt mit solchen Quellen zu arbeiten. Die Menge an digitalen Daten und deren Vernetzung untereinander erzeugt neues Wissen und die Referenz einzelner Projekte auf übergreifende Normdaten erlaubt entsprechend datenreiche Analysen des vorhandenen Materials. Doch es gibt vonseiten der Fachleute auch eine kritische Sicht auf den Digitalisierungstrend: Was, wenn der Eindruck entsteht, die Digitalisate könnten die Originale ersetzen, wenn also deren physische Aufbewahrung als überflüssig erachtet wird? Was, wenn die Recherche durch digitale Suchmaschinen die Benutzung von archivischen Hilfsmitteln wie Findbüchern oder die Auskunft der Mitarbeiter obsolet erscheinen lässt, wodurch deren nicht online erfassten Informationsmöglichkeiten ungenutzt blieben? Was, wenn Forscher und andere Interessierte glauben, der digitale Bestand repräsentiere den Gesamtbestand der Archive, wo davon tatsächlich nur ein (als der finanziellen Förderung würdig erachteter) Teil abgebildet wird? Diese Bedenken sind keine rein theoretischen Spekulationen, sondern wohl bereits in gewissem Maße Erfahrungswerte.

Dass Digitalisate und online-Suchen trotz ihrer vielen Möglichkeiten und Erleichterungen nicht den Funktionsbereich von Archiven abdecken und ihre Expertise ersetzen können, wurde darüber hinaus u. a. an der Präsentation des Hochschularchivs / Thüringischen Landesmusikarchivs deutlich. Der Vortragende Christoph Meixner brachte verschiedene Beispiele dafür, wie die Öffentlichkeitsarbeit vor Ort (in den thüringischen Gemeinden) das Bewusstsein und Interesse für historisches Musikalienmaterial in der Gegend wecken konnte. Dadurch kommt es dann auch immer wieder zu Bestandserweiterungen, wenn etwa in Kirchen oder Privathaushalten alte Notenblätter oder Musikinstrumente gefunden werden, die ohne das entsprechende Bewusstsein nicht weiter beachtet worden und vielleicht verlorengegangen wären.


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